K.H. Friedgen TOP 1000 REZENSENT 5,0 von 5 Sternen Ein maßstäblicher "Fidelio" 28. Mai 2016 Als Otto Klemperer (1885-1973) im Frühjahr 1962 Beethovens "Fidelio" in der Londoner Kingsway Hall aufzeichnete, neigte sich seine überaus fruchtbare und lange Jahre ungetrübte Zusammenarbeit mit dem bedeutenden englischen Produzenten Walter Legge dem Ende zu. So ist es lebhaft zu begrüßen, daß diese herausragende Aufnahme vor dem bedauernswerten Zerwürfnis noch realisiert werden konnte. In vielerlei Hinsicht ist nämlich die Klemperer/Legge-Produktion bis heute Maßstab für alle folgenden Aufnahmen geblieben. Das beginnt gleich bei der Besetzung: Christa Ludwig in der Titelpartie war ein umstrittenes Experiment, das im Vorfeld der Produktion zu ausgedehnten Diskussionen zwischen Dirigent und Aufnahmeleiter führte. Im Rückblick kann man nur von einer Traumbesetzung sprechen. Keine andere Darstellerin, selbst nicht Martha Mödl in der legendären Furtwängler-Aufnahme von 1953, hat die mörderische Rolle so überzeugend und gleichzeitig traumhaft schön gesungen. Da muß für meine Begriffe selbst die von mir hochgeschätzte Gundula Janowitz (bei Bernstein) ein wenig auf der Strecke bleiben, trotz ihres wunderbaren Gesanges. Bei Christa Ludwig ist es eben die Einheit von Gesang u n d Darstellung, was ihre Leistung so einmalig und unübertrefflich macht. Den Florestan singt, wie später auch bei Karajan (EMI, 1970), der Kanadier Jon Vickers. Über sein spezielles, ein wenig gewöhnungsbedürftiges und auch rauhes Timbre kann man durchaus geteilter Meinung sein, aber darstellerisch schlägt er seine Konkurrenten glatt aus dem Felde. Man muß schon zu Helge Roswaenges historischer Florestan-Arie von 1938 oder zu Peter Anders' EMI-Aufnahme (1952) greifen, um eine ähnlich ergreifende Rollengestaltung zu erleben. Vickers singt die Partie nicht, er lebt sie. Gottlob Fricks Rocco war seinerzeit legendär, und er ist demgemäß auch in diversen anderen Aufnahmen zum Einsatz gekommen (Furtwängler, Fricsay). Bei Klemperer bewährt er sich wieder sowohl sängerisch wie darstellerisch und ist zu den tragenden Säulen der Aufnahme zu zählen. Kaum jemand hat den Pizarro so schön und notengetreu gesungen wie Walter Berry, allerdings kommt der "eingefleischte Bösewicht" in seiner Deutung ein wenig zu kurz. Franz Crass ist eine schöne Besetzung für den Don Fernando, er singt seinen Part mit Würde und klangreinem Baß. Wie die seinerzeit in München hochgejubelte und dann schnell in Vergessenheit geratene Ingeborg Hallstein in Klemperers erlesene Sängerschar geraten ist, wird wohl nie ganz geklärt werden können. Sie entledigt sich ihrer kleinen Rolle als Marzelline zwar mit Anstand, aber Vergleiche mit Sena Jurinac, Irmgard Seefried oder Helen Donath sollte man lieber nicht anstellen. Ein großes Kompliment hat dagegen Gerhard Unger als Jaquino verdient. Einen Schatten, und das darf nicht unterschlagen werden, werfen die - Gott sei Dank kurzen - gesprochenen Dialoge auf die großartige Aufnahme. Obwohl man die Sänger selbst sprechen läßt und auf den sonst üblichen Einsatz von Schauspielern verzichtet hat, stört die antiquierte und gespreizte Redeweise, die stellenweise in die Nähe unfreiwilliger Komik gerät, aber gottlob kann man bei der CD diese Stellen einfach ausblenden. Nicht genug zu loben sind der von Wilhelm Pitz großartig einstudierte Philharmonia Chorus und das in Hochform aufspielende Philharmonia Orchestra London. Otto Klemperer läßt seine lebenslange Vertrautheit mit Beethovens einziger Oper an allen Stellen durchscheinen, er vollbringt eine ganz exorbitante Leistung, die m.E. zu seinen allerbesten gehört. Die technische Beschaffenheit der inzwischen über 50 Jahre alten Aufnahme ist in bester Ordnung. Ein informatives, mehrsprachiges Textheft rundet eine schöne Ausgabe wirkungsvoll ab.